Mit meinem Vorstoss forderte ich den Bundesrat auf, eine vierzigjährige Pendenz endlich zu erledigen. Es geht um einen Vertrag, der vom Bundesrat zwar unterzeichnet, von diesem Parlament aber bis heute nicht ratifiziert wurde. Es wurde auch keine Genehmigung zur Ratifizierung durch den Bundesrat erteilt. Nun kann der Bundesrat sein seit 40 Jahren bestehendes Projekt eines Beitritts zur und einer Ratifizierung der europäischen Sozialcharta definitiv beerdigen.
Es war damals SP-Bundesrat Pierre Graber, der im Jahr 1976 die damalige, ursprünglich aus dem Jahr 1961 stammende europäische Sozialcharta unterzeichnete - natürlich mit der Absicht, diesen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag auch in der Schweiz vollumfänglich umzusetzen und damit das europäische Sozial- und Wirtschaftsrecht auch für die Schweiz integral zu übernehmen.
National- und Ständerat haben es aber stets klar abgelehnt, unsere eigenständige Sozial-, Arbeits- oder Wirtschaftspolitik aufzugeben. In den letzten 40 Jahren sind unzählige Gutachten, Vernehmlassungen, Verwaltungsberichte, Zusatzberichte usw. in Auftrag gegeben, zur Kenntnis genommen und wieder verworfen worden. immer wieder wurde konstatiert und wiederholt, dass eine Ratifizierung dieser Sozialcharta nicht sinnvoll sei für die Schweiz, weil sie Verpflichtungen enthalte, die mit dem föderalistischen Staatsaufbau der Schweiz und der Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden nicht vereinbar seien.
So galt beispielsweise das weltweit anerkannte Schweizer Berufsbildungssystem lange als nicht mit dieser Charta vereinbar, unter anderem wegen der Lohnregelungen, die wir mit Lehrlingen getroffen haben. Problematisch ist nun, dass der Bundesrat diese Bedenken zwar formaljuristisch ausgeräumt hat, dass aber die europäische Überwachungsbehörde, die über diese Charta wacht, sehr dynamisch agiert und dass die Beurteilung, ob ein Gesetz als verfassungskonform betrachtet wird, sich eben auch schnell wieder ändern kann. Begründete rechtliche Zweifel bestehen auch weiterhin hinsichtlich der Obergrenze bei Entschädigungszahlungen bei missbräuchlichen Kündigungen, hinsichtlich des Streikverbots für gewisse öffentliche Angestellte oder des Mangels an Stand- und Durchgangsplätzen für Fahrende.
Eine allfällige Ratifizierung der Charta führt für die Schweiz unweigerlich zu einem Anpassungsdruck für die Schweizer Rechtsordnung. Innen- und aussenpolitisch könnten die Empfehlungen des europäischen Sozialüberwachungsausschusses als Druckmittel für den weiteren Ausbau des Sozialstaates dienen. Unter Druck geraten könnte auch das vergleichsweise liberale Arbeitsgesetz, das in der Schweiz erfolgreich ist und zu einer hohen Beschäftigung beiträgt.
Die Ratifizierung brächte der Schweiz also keinen Mehrwert, im Gegenteil: Es wäre zu befürchten, dass sich unser Land als vertragstreuer Staat an sämtliche Empfehlungen halten würde und ihre Rechtsordnung unter internationalem Druck bereitwillig anpassen würde, während sehr offen vermutet werden darf, dass sich grosse Mitgliedstaaten oft nicht in gleicher Konsequenz an die in der Charta verbrieften Rechte halten.
Der Bundesrat sagte zwar öfters, er werde von den Behörden des Europarates immer wieder auf den Beitritt der Schweiz zur Sozialcharta angesprochen. Dem Vernehmen nach ist es vor allem das Aussendepartement, das aus Marketinggründen eher für eine Ratifizierung eintritt, während das Wirtschaftsdepartement eine klare Skepsis hinsichtlich des liberalen Ansatzes in der Wirtschaftsordnung zeigt, was ja ein wesentlicher Standortfaktor für die Schweiz ist.
Ein Beitritt aus aussenpolitischen Imagegründen ist klar abzulehnen. Die Schweiz verfügt über einen gut ausgebauten Sozialstaat sowie über einen funktionierenden, sozialverträglichen Arbeitsmarkt.
Auch wenn wir die Sozialcharta nicht ratifizieren, müssen wir uns jedenfalls nicht verstecken und stehen punkto Sozialstaat und Arbeitsmarkt weit besser da als andere Mitgliedstaaten.
Der Bundesrat hat gesagt, der Ball liege beim Parlament. Wir nehmen diesen Ball auf, und ich beantrage Ihnen, heute ein klares Signal an den Bundesrat zu senden, nämlich das Signal, dass er sich nicht mehr die Mühe nehmen muss, eine Ratifizierungsvorlage für das Parlament zu erarbeiten.